Jan Billhardt (Hrsg.)
HERZundUNTERGANG

22 Geschichten | 17 Autoren | 165 Seiten
ISBN 3-8311-1100-6
Minimal Trash Art, 2000
Preis: 9,60 €

Autoren:
Jan Billhardt, Hamburg
Lena Braun, Berlin
Stefan Boskamp, Hamburg
Jan Deichner, Hamburg
Wolfgang E.E., Hamburg / Wien
Marc Frese, Hamburg
Gerrit Jöns-Anders, Münster
Meinrad Jungblut, Köln
Stefan Kalbers, Stuttgart
Matthias Leitlein, Ludwigsburg
Benjamin Maack, Hamburg
Melanie Reiling, Hamburg
Dore Steinert, Hamburg
Jakob Schneider, Köln
Patrick Schrag, Basel
Roger Trash, Münster
Viktor, Hamburg

Zum Reinlesen:

Jan Deichner
Einmal Kindheit bitte

Das ist Jetzt und ich freue mich auf Morgen, weil wir uns dann wiedersehen.
Das Gestern war seit Ewigkeiten heftig – irgendwie, irgendwo ein Karussell, und ich sitze darauf, aber dieses missratene Ding hört nicht auf, sich zu drehen. Ich schreie. Ich telefoniere mobil. Ich beginne zu kotzen. Niemand bemerkt’s, dann schlaf ich ein, obwohl mir schwindelig ist, ich träume schlecht, ich träume das Gleiche, was mir passiert. Als ich aufwache, dreht sich das Karussell weiter, Menschen aller Qualitätsstufen haben sich versammelt, glotzen. Die Polizei versucht, das Karussell zu stoppen, es funktioniert nicht. Hubschrauber werden eingesetzt, um mir Essen zu bringen – da ich mich seit Tagen drehe und völlig leergekotzt bin. Sie geben mir flüssiges Essen und unter mir Menschenmassen, die mir zujubeln. Ich leere den Becher über sie aus, sie schreien vor Freude. Ein Pfarrer kommt auf einer Feuerwehrleiter in meine Nähe und fragt mich um Buße. Ich frage ihn, ob er Kekse dabei hat. Fotografen fotografieren mich, Journalisten schreiben über mich, sogar Maler malen mich, und alles wird verkauft, über Internet gezeigt, und jeder kennt „Julia auf dem Karussell“. Es kommen hochrangige Techniker aus den USA. Sie versuchen, das Karussell zu stoppen, sogar magische Menschen versuchen, mir zu helfen, sie schmeißen Duft und Farbe in die Luft, sprechen wie singen. Ich weiß nicht, ob sie beten oder fluchen. Egal, die Techniker, welche sehr teuer aus den USA gekommen sind, wissen keinen Rat. Also gehen sie wieder. Sie waren sehr teuer. Die Stadt hat’s bezahlt und ist jetzt wütend auf mich. Die Menschen verlieren das Interesse an mir, aber ich habe Hunger, die Fotografen, die Journalisten, alle hören auf, die Maler packen ihre Staffeleien zusammen. Geld haben sie alle genug gemacht. Es fängt an zu regnen und auch die letzten gehen jetzt. Auch der Pfarrer. Der Regen fällt schwer auf meinen Kopf, er wird immer heftiger, es ist kalt, mir ist kalt und nass, und ich habe Hunger. Ich öffne den Mund, damit ich trinken kann. Wenigstens. Und dann, dann passiert es, ein Blitz schlägt ein, trennt die Stromversorgung, und ich fliege im hohen Bogen Richtung Hafen direkt in die Elbe.
Während ich fliege, werde ich mir der Blödheit bewusst, dass diese ganzen Menschen nicht daran gedacht hatten, den Strom abzuschalten und bevor ich in die Elbe klatsche, denke ich, nass bin ich sowieso schon. Als ich wieder zu mir komme, finde ich mich auf einem Schiff wieder, was mit Bananen zu tun hat, aber es sind keine an Bord. „Wir müssen erst welche holen“, wird mir gesagt, „irgendwo im Paradies“. Das hört sich gut an, aber beim Kramen in meiner Tasche finde ich ein Bild meiner Familie und springe über Bord.